Autofahren mit Cannabismedizin – eine komplexe Herausforderung
Ein wissenschaftliches Dilemma
Die Studie der SGRM stellt die verschiedenen Ansätze zur Beurteilung der Fahrfähigkeit bei Freizeitkonsum unter Einfluss von THC vor:
- Wirkungsorientierter Ansatz: Hier wird die Fahrfähigkeit im Einzelfall bewertet – ein sehr aufwändiges Verfahren.
- Per se-Ansatz: Ein fester Grenzwert wird definiert, ab dem die Fahrfähigkeit als beeinträchtigt gilt.
- Nulltoleranz-Ansatz: Jeder Nachweis von THC im Blut führt zur Annahme der Fahruntauglichkeit.
Aktuell gilt in der Schweiz ein modifizierter Nulltoleranz-Ansatz mit einem Grenzwert von 1.5 µg/L THC im Blut. Dieser Grenzwert berücksichtigt jedoch nicht die individuelle Toleranz oder die Wirkung von THC bei Langzeitanwendern, insbesondere bei Patientinnen und Patienten, die Cannabis aus medizinischen Gründen einnehmen.
Die Studie kommt zu dem Schluss, dass ein wirkungsbasierter Grenzwert für THC – wie bei Alkohol – aus wissenschaftlicher Sicht nicht möglich ist. Stattdessen wird ein per se-Ansatz mit einem leicht angehobenen Grenzwert von 1.7 µg/L im Vollblut vorgeschlagen, um eine relevante Beeinträchtigung der Fahrfähigkeit auszuschließen.
Fahreignung und Fahrfähigkeit bei medizinischem Cannabis
Personen, die Cannabis aus medizinischen Gründen auf ärztliche Verordnung einnehmen, sind nicht automatisch fahrgeeignet. Eine Teilnahme am motorisierten Straßenverkehr sollte erst nach einer positiven verkehrsmedizinischen Begutachtung erfolgen. Diese Prüfung berücksichtigt die zugrunde liegenden Erkrankungen, deren medikamentöse Behandlung, die Indikation der Cannabistherapie, die individuelle Verträglichkeit sowie das Konsumverhalten in Bezug auf psychotrope Substanzen wie Alkohol, Cannabis oder andere Drogen.
Nach geltendem Schweizer Recht gilt für THC grundsätzlich eine «Nulltoleranz». Eine Ausnahme besteht jedoch, wenn THC-haltige Präparate ärztlich verschrieben wurden. In diesen Fällen muss die Fahrfähigkeit individuell beurteilt werden. Ärztinnen und Ärzte sind verpflichtet, die Patientinnen und Patienten im Rahmen der sogenannten Sicherungsaufklärung über ihre Fahrfähigkeit unter THC-Medikation zu informieren. Die Verantwortung, nur in fahrfähigem Zustand am Straßenverkehr teilzunehmen, liegt letztlich bei den Betroffenen selbst.
Kommt es dennoch zu Vorfällen im Straßenverkehr, erfolgt die Fahrfähigkeitsbeurteilung im Rahmen eines sogenannten 3-Säulen-Gutachtens. Dieses umfasst die polizeilichen Beobachtungen, die ärztlichen Untersuchungsbefunde sowie forensisch-toxikologische Analyseresultate. Auch fahrrelevante Auswirkungen der Grunderkrankung oder anderer verordneter Medikamente fließen in die Beurteilung mit ein.
Ein entscheidendes Problem bleibt jedoch die fehlende Rechtssicherheit. Ohne eine klare, bestätigte Fahrfähigkeit besteht im Falle eines Unfalls ein erhebliches Risiko, den Versicherungsschutz zu verlieren. Es können Leistungen verweigert werden, wenn nachgewiesen wird, dass die Fahrfähigkeit durch die THC-Medikation beeinträchtigt war. Dieses rechtliche und finanzielle Risiko macht deutlich, wie wichtig eine transparente und verlässliche Regelung im Straßenverkehr ist.
Der Verein MEDCAN setzt sich dafür ein, diese Ungerechtigkeiten zu adressieren. Es braucht differenzierte Ansätze, die die individuellen Umstände der Betroffenen berücksichtigen und ihnen eine faire Chance geben, ihre Mobilität und ihre Rechte zu bewahren.
Aus Sicht der Betroffenen ist das eine unfaire Behandlung
Die wissenschaftlichen Ergebnisse sind ein wichtiger Beitrag, doch was bedeutet das in der Praxis? Aus unserer Erfahrung als Verein MEDCAN zeigt sich, dass viele chronisch Kranke aufgrund der aktuellen Regelungen massiv eingeschränkt werden – Einschränkungen, die nicht nur den Alltag erschweren, sondern teils existenzielle Folgen haben können.
Ein Patient und eine Patientin haben uns ihre Geschichte anvertraut – zwei Beispiele, die stellvertretend für die zahlreichen Herausforderungen stehen, mit denen viele Betroffene kämpfen. Ihre Erfahrungen zeigen, wie dringend Änderungen in der Praxis erforderlich sind, um den Zugang zu einer sicheren und fairen Behandlung zu gewährleisten.
«Entweder Cannabis oder Auto.»
Ein Mann aus den Bergen, der täglich eine minimale Menge von 0,5 g Cannabisblüten mit einem THC-Gehalt von 25 % zu sich nimmt und damit gut und sicher eingestellt ist, erlebte einen wahren Albtraum. Er ist auf sein Auto angewiesen – nicht nur für den Weg zur Arbeit, sondern auch, um soziale Kontakte zu pflegen und den Alltag zu bewältigen. Die nächste öffentliche Verkehrsanbindung ist sechs Kilometer entfernt und im Winter nahezu unzugänglich.
Nach einer Hausdurchsuchung – ausgelöst durch den Besitz von Cannabisblüten – wurde der Fall an das Straßenverkehrsamt gemeldet. Er musste sich einem Stufe-4-Gutachten unterziehen, bei dem die Ärztin ihm mitteilte: «Entweder Cannabis als Medizin oder Auto.»
Um seinen Führerschein zu behalten, beendete er die Medikation sofort. Seither leidet er erneut unter chronischen Schlafproblemen und Albträumen und einer deutlich schlechteren Lebensqualität. Zudem muss er für mindestens ein Jahr regelmäßige Urinproben abgeben, um seine Abstinenz zu beweisen – eine Maßnahme, die mit hohen Kosten verbunden ist.
«Um mobil zu bleiben, musste ich eine Odyssey durchlaufen.»
Die zweite Geschichte, die uns erreicht hat, zeigt ebenfalls die tiefgreifenden Auswirkungen der derzeitigen Regelungen. Andrea, 55 Jahre alt, ist immunsupprimiert und lebt mit chronischer Erschöpfung sowie Gelenkschmerzen. Sie ist auf ihr Auto angewiesen, um den Alltag zu bewältigen, denn stressige Situationen wie hastiges Umsteigen im ÖV sind für sie undenkbar.
Nach einer routinemäßigen Überprüfung durch die IV erhielt das Straßenverkehrsamt Zugriff auf ihre vollständige Akte – inklusive Details, die nichts mit ihrer Fahrtauglichkeit zu tun hatten. Aufgrund ihrer THC-Medikation wurde ihr der Führerschein entzogen.
Die Folgen waren verheerend: Andrea musste die Therapie abbrechen und auf andere Medikamente umsteigen, die schwere Nebenwirkungen hatten. Erst nach monatelanger Abstinenz und erneuten Gutachten durfte sie unter strengen Auflagen wieder fahren. Ironischerweise zeigten Tests, dass ihre Reaktionsgeschwindigkeit mit THC im Blut besser war als ohne.
Hier können Sie die ganze Geschichte von Andrea lesen.
Die Position des Vereins MEDCAN
Die aktuellen Regelungen führen in der Praxis zu massiven Ungerechtigkeiten. Wir fordern eine differenzierte Regelung, die zwischen tatsächlicher Beeinträchtigung und einem rein positiven THC-Nachweis unterscheidet. Es kann nicht sein, dass Betroffene mit stabiler Medikation und nachweisbarer Fahrtauglichkeit vom Straßenverkehr ausgeschlossen werden.
Für viele chronisch kranke Menschen, insbesondere in ländlichen Regionen, ist das Auto essenziell, um den Alltag zu bewältigen. Ein Entzug der Fahrerlaubnis kann existenzielle Konsequenzen haben und die soziale Isolation fördern.
Verantwortungsbewusst unterwegs
Als Verein möchten wir betonen, dass Cannabis-Patientinnen und -Patienten keineswegs berauscht am Straßenverkehr teilnehmen wollen. Im Gegenteil, ihnen liegt ein verantwortungsvoller Umgang mit dem Auto sehr am Herzen.
Es ist jedoch wichtig zu verstehen, dass die Wirkung von Cannabis ganz anders ist als die von Alkohol. Während Alkohol einen linearen Abbau im Körper zeigt, bleibt THC – der psychoaktive Wirkstoff in Cannabis – deutlich länger im Blut nachweisbar. Das bedeutet, dass man noch Tage oder sogar Wochen nach der Einnahme positiv auf THC getestet werden kann, obwohl keine beeinträchtigende Wirkung mehr vorliegt.
Die aktuellen gesetzlichen Grenzwerte für THC im Straßenverkehr sind für den Freizeitkonsum ausgelegt und berücksichtigen nicht die Situation von Patientinnen und Patienten, die eine stabile Dosierung einnehmen und keinen Rausch erleben. Diese Grenzwerte führen dazu, dass viele Menschen ihre Mobilität verlieren, obwohl sie verantwortungsvoll mit ihrer Medikation umgehen und sicher fahren können.
Wir setzen uns als Verein dafür ein, dass diese Unterschiede besser verstanden und in der Gesetzgebung berücksichtigt werden. Unser Ziel ist es, dass Betroffene nicht ungerecht behandelt werden und ihre Mobilität nicht verlieren, nur weil sie eine notwendige Medikation einnehmen. Verantwortung und Sicherheit im Straßenverkehr bleiben dabei für uns oberstes Gebot.
Ein Appell an die Politik
Der Verein MEDCAN setzt sich dafür ein, dass die Regelungen angepasst werden. Unsere Forderungen:
- Einführung eines realistischen Kontrollsystems, das medizinische Anwenderinnen und Anwender nicht diskriminiert.
- Individuelle Begutachtungen, die wissenschaftlich fundiert und fair durchgeführt werden.
- Schutz der Daten von Betroffenen, um willkürliche Entscheidungen zu verhindern.
Wir rufen alle auf, sich für eine gerechtere Verkehrspolitik einzusetzen. Gemeinsam können wir dazu beitragen, dass chronisch Kranke trotz ihrer Medikation mobil bleiben und ein selbstbestimmtes Leben führen können. Werden Sie Mitglied oder unterstützen Sie uns mit einer Spende.
Diese Punkte sollten Sie beachten, wenn Sie Cannabis-Patientin oder -Patient sind und ein Auto lenken:
1. Ärztliche Verschreibung und Dokumentation
- Verschreibung: Stellen Sie sicher, dass Ihre Cannabis-Medikation durch eine ärztliche Verordnung legalisiert ist. Diese dient als Nachweis, dass Sie das Medikament aus medizinischen Gründen einnehmen.
- Dokumentation: Bitten Sie Ihre Ärztin oder Ihren Arzt, die Dosierung und den Zweck der Medikation schriftlich festzuhalten. Tragen Sie eine Kopie dieser Verordnung immer bei sich, wenn Sie fahren.
2. Fahrfähigkeitsgutachten
- Antrag: Wenden Sie sich an das Straßenverkehrsamt Ihres Wohnkantons, um ein verkehrsmedizinisches Gutachten zur Fahrfähigkeit einzuleiten.
- Begutachtung: Verkehrsmedizinerinnen und -mediziner prüfen: Ihre Krankengeschichte und Diagnose, die Dosierung und Wirkung der Medikation, Ihren THC-Spiegel im Blut sowie mögliche Nebenwirkungen
- Ergebnis: Wenn keine Beeinträchtigung der Fahrtauglichkeit vorliegt, wird Ihre Fahreignung bestätigt.
- Wichtig: Es gibt jedoch keine Garantie, dass das Gutachten positiv ausfällt. Der Entscheid hängt stark davon ab, wie die jeweilige Verkehrsärztin oder der jeweilige Verkehrsmediziner in Ihrem Kanton die medizinische Anwendung von Cannabis beurteilt. Ein solcher Test kann unter Umständen auch Probleme auslösen und zu einem Entzug des Fahrausweises führen.
3. Regelmäßige Kontrolluntersuchungen
Je nach Entscheidung der Verkehrsmedizinerinnen und -mediziner können regelmäßige Kontrolluntersuchungen verlangt werden, z. B. durch Urin- oder Blutproben, um sicherzustellen, dass Sie die vorgeschriebene Dosierung einhalten.
4. Feste THC-Grenzwerte beachten
- In der Schweiz liegt der gesetzliche Grenzwert für THC im Blut bei 1.5 µg/L (Vollblut).
- Langzeit-Patientinnen und -Patienten können erhöhte THC-Werte haben, ohne dass die Fahrtauglichkeit beeinträchtigt ist. Dies muss jedoch im Gutachten berücksichtigt werden.
5. Keine Fahrt unter Akutwirkung
Fahren Sie niemals unter akutem Einfluss von Medizinalcannabis! Auch mit einer ärztlichen Verschreibung ist das Fahren verboten, wenn eine Beeinträchtigung der Fahrtauglichkeit vorliegt.
Verzichten Sie auf das Autofahren, wenn Sie:
- Eine neue Dosierung oder ein neues Produkt ausprobieren.
- Sich nach der Einnahme berauscht oder beeinträchtigt fühlen.
Verantwortungsbewusstes Verhalten im Straßenverkehr ist entscheidend – Sicherheit hat oberste Priorität.
6. Nachweis bei Polizeikontrollen
- Ärztliche Bescheinigung: Zeigen Sie bei Bedarf eine Kopie der ärztlichen Verschreibung und wenn sie ein solches besitzen, eine Kopie Ihres Gutachten vor.
- Ruhig bleiben: Ein positiver THC-Test kann problematisch sein, wenn kein Nachweis über die medizinische Nutzung und Fahrtauglichkeit erbracht wird.
7. Rechtliche Unterstützung
- Anwältin oder Anwalt: Bei Problemen sollten Sie rechtlichen Beistand suchen, der sich auf Straßenverkehrsrecht und die medizinische Verwendung von Cannabis spezialisiert hat.
8. Verkehrsteilnahme bei Medizinalcannabis
Die Webseite der Schweizerischen Gesellschaft für Cannabis in der Medizin (SCGM) bietet Informationen zur Fahrfähigkeit bei Medizinalcannabis, einschließlich:
- Richtlinien: Hinweise zur sicheren Verkehrsteilnahme und THC-Grenzwerte.
- Rechtliches: Übersicht über Gesetze und Gutachten.
- Fachliteratur: Beiträge zur Fahreignung, z. B. aus dem Jahrbuch zum Straßenverkehrsrecht 2022.
Der Verein MEDCAN kann nicht mit gutem Gewissen empfehlen, ein Fahrfähigkeitsgutachten einzuleiten. Die Entscheidung über die Fahrtauglichkeit ist stark von der persönlichen Einschätzung der Verkehrsmedizinerinnen und -mediziner abhängig. Ein solcher Test kann im schlimmsten Fall dazu führen, dass Ihre Fahrtauglichkeit aberkannt und Ihr Fahrausweis entzogen wird.
In der aktuellen Rechtslage rät MEDCAN Patientinnen und Patienten, die THC-haltiges Cannabis medizinisch einnehmen, auf das Autofahren zu verzichten, um rechtliche Probleme zu vermeiden.