Zum Hauptinhalt springen

Sandra

Jahrgang: 1964
Diagnose: Epilepsie
Sandra erhielt ihre Epilepsie-Diagnose erst mit 47 Jahren.
«Seit ich medizinisches Cannabis verwende, hatte ich keinen epileptischen Anfall mehr.»
Sandra
Patientengeschichten

«Unsere Träumerin, wo bist du, an was denkst du?» Viel zu oft hört Sandra in ihrer Kindheit, während ihrer Jugend, aber auch im Erwachsenenalter diese Frage. Doch Sandra träumte nicht. «Ich hatte schon als Kind das Gefühl, anders zu sein. Ich konnte mich nicht gut konzentrieren, hatte oft Gedächtnisprobleme», erzählt Sandra. Im Nachhinein gesehen waren dies Anzeichen ihrer Epilepsie-Erkrankung.

Geplatzter Ausbildungstraum

Sandra ist in der Primarschule eine gute Schülerin und schafft den Übertritt auf das Gymnasium. Leider lässt sie aufgrund ihrer – damals nicht entdeckten – Erkrankung ihr Gedächtnis immer wieder im Stich, so dass sie auf die Sekundarschule zurückwechseln muss. Nach der Sekundarschule schafft sie die Aufnahme in den Vorkurs der Kunstgewerbeschule, kann diesen jedoch nicht abschliessen – obwohl sie sehr kreativ ist. Sie kann sich die Mengen an Stoff nicht merken. «Ich hatte schon damals die ersten Anfälle, allerdings nicht so schlimm wie später. Doch nicht mal meine Mutter hat mir geglaubt – sie war überfordert von meinen Zuständen. Zudem wusste man in den Achtzigerjahren noch nicht so viel über Epilepsie. Sie dachte, ich hätte eine psychische Erkrankung.»

Sandra bricht den Vorkurs ab, lernt ihren späteren Mann kennen und wird mit 23 das erste Mal Mutter. Mit 25 Jahren lässt sie den Epilepsie-Verdacht erstmals neurologisch abklären – das Ergebnis ist nicht eindeutig. «Ich habe kurz ein Medikament gegen Epilepsie genommen, davon aber starken Ausschlag bekommen. Die Medikamente waren in den Achtziger-Jahren noch sehr stark und nicht so individuell dosierbar wie heute. Innerlich habe ich mich gegen das Medikament und dagegen gewehrt, die Erkrankung anzuerkennen. Ich habe sie lange verdrängt.»

Erfüllter Berufstraum

Sandra bekommt ein weiteres Kind. Kurz darauf, mit 27, beginnt sie ein zweites Mal eine Ausbildung. Ihr Berufsziel: Kindergarten-Lehrerin. «Zum Glück war es damals noch möglich, ohne ein Studium Kindergarten-Lehrerin zu werden. Ich zog die Ausbildung durch – mit zwei Kleinkindern zuhause. Und trotz der nicht diagnostizierten Epilepsie.» Nach der Ausbildung arbeitet sie Vollzeit, während ihr Mann zuhause die Kinder betreut und den Haushalt macht. Die Ehe ist alles andere als glücklich, ihr Mann übt körperliche und psychische Gewalt aus. Trotzdem bleibt das Paar 23 Jahre zusammen.

Obwohl Sandra mehrfach belastet ist, arbeitet sie 20 Jahre als Kindergarten-Lehrerin: «Ich habe lange Jahre Vollzeit gearbeitet, war immer die hauptverantwortliche Lehrkraft, hatte viel Elterngespräche und Sitzungen. Wenn ich am Nachmittag frei hatte, bin ich oft nach Hause und habe mindestens zwei Stunden geschlafen. Oder ich hatte einen epileptischen Anfall, ohne zu wissen, dass ich einen hatte. Grundsätzlich war ich immer sehr erschöpft nach den Anfällen.» Was Sandra antreibt und durchhalten lässt, ist die Liebe zu ihrem sozialen und gleichzeitig kreativen Beruf. «Ich bin schon mit den Kindern in den Wald zum Spielen, als das noch niemand gemacht hat. Und ich konnte stundenlang mit ihnen malen oder basteln. Das war mein Rückzug und meine Rettung», erzählt sie rückblickend.

Vermehrte Anfälle

Gegen Ende der Nullerjahre verdichten sich bei Sandra die Anzeichen für Epilepsie. Die Zustände, die sich nur schwer in Worte fassen kann, häufen sich. «Meist begann ein epileptischer Anfall mit schweren Déjà-Vus. Ich hatte mit meinem ganzen Körper das Gefühl, eine Situation schonmal durchlebt zu haben. Begleitet wurden die Anfälle von Übelkeit, die aus der Bauchgegend aufstieg. Mein Blick wurde jeweils starr, ich konnte nicht mehr sprechen und sank in mich zusammen. Es ist schwer zu sagen, wie lange dieser Zustand andauerte – vielleicht zwei bis drei Minuten. Für mich eine Ewigkeit, denn Todesangst war Teil der Anfälle. Das ist nicht verwunderlich, denn ein Anfall betrifft auch die Hirnregion Amygdala. Und die reguliert das Angstempfinden.» Auch ausser Haus kommt es vor, dass Sandra zusammenbricht. «Einmal konnte ich mich vor der Post gerade noch so halten. Von aussen betrachtet, kann ein Anfall erschreckend wirken. Ich musste bei den massiven Anfällen tief und schwer atmen und habe dadurch unmenschliche Töne von mir gegeben», erklärt sie. Enttäuscht ist Sandra darüber, dass kaum jemand ihr während oder nach einem Anfall in der Öffentlichkeit Hilfe angeboten hat. «Die Leute gaffen nur, aber tun nichts», sagt sie resigniert.

Entlastende Gewissheit

Sandra spricht während dieser Zeit mit ihrer Cousine über ihre Zustände. Diese nimmt sie ernst und ermutigt sie, medizinische Abklärungen durchführen zu lassen. Im Jahr 2012 wird Sandra nach einem positiven Vorgespräch zu einem mehrtätigen Epilepsie-Monitoring in der Epi-Klinik Zürich aufgenommen. Anschliessend ist klar: Sandra hat Epilepsie. Die Ärztinnen und Ärzte sagten ihr, dass sie die Aufsicht über Schutzbefohlene habe und deshalb nicht mehr als Kindergärtnerin arbeiten dürfe. «Erst hat mir das den Boden unter den Füssen weggezogen. Schliesslich liebte ich meinen Beruf. Doch dann war ich erleichtert. Jetzt hatte ich eine Erklärung für mein Zustände und zudem die ärztliche Erlaubnis, nicht mehr funktionieren zu müssen.»

Schwere Zeiten

Trotz der entlastenden Diagnose läuft in den kommenden Jahren wenig rund für Sandra: Sie reduziert ihr Pensum als Kindergarten-Lehrerin und macht eine Umschulung für «Deutsch als Zweitsprache» (DAZ) für Kinder mit Migrationshintergrund. Sandra nimmt Medikamente gegen Epilepsie, hat aber trotzdem regelmässig Anfälle.

Zwischen 2017 und 2019 wird Sandra immer wieder für längere Zeit krankgeschrieben. So häufig, dass die Taggeldversicherung nicht mehr zahlt. «Während ich kaum mehr arbeiten konnte, wurden mir immer mehr Anti-Epileptika verschrieben. Bis zu 600 mg nahm ich pro Tag ein. Gleichzeitig plagten mich Existenzängste und depressive Phasen», erzählt sie und Tränen steigen ihr in die Augen. Die seelische Belastung und der Stress sind so gross, dass Sandra zu dieser Zeit ihren ersten, sogenannten dissoziativen, epileptischen Anfall durchleidet. Sie schafft es gerade noch, selbst die Ambulanz rufen. Im Ambulanzfahrzeug verkrampften sich ihre Arme und Beine, so dass sie sich nicht mehr bewegen konnte. Nachdem sich solche Anfälle wiederholen, weist sich Sandra im Januar 2019 selbst zur psychiatrischen Behandlung in eine Spezialklinik in Arlesheim ein. «Mein Zustand war so schlimm, dass ich an Selbstmord dachte», schaut sie zurück. Der Aufenthalt tut Sandra gut. Sie findet anschliessend die Kraft, im Herbst 2019 zu ihren zwei in Spanien lebenden Kindern «auszuwandern». Leider kommt es mit den Kindern zu so schweren Konflikten, dass Sandra nach einem Dreivierteljahr desillusioniert in die Schweiz zurückkehrt.

Ständige Trigger

Der Konflikt mit ihren Kindern brachte alte Traumata hervor, die Sandra so schwer belasten, dass sie ab dem Sommer 2020 rund zwei Jahre lang fast täglich einen dissoziativen, epileptischen Anfall erleidet. Eine neue Stelle, auf die sie sich beworben hatte, kann sie deshalb nicht antreten. «Die Auslöser für Anfälle waren – von aussen betrachtet – winzig. Es konnte passieren, dass ich einen Anfall hatte, wenn ich Sachen aus einer Zügelkiste von meiner Auswanderung räumte. Wenn eine Olivenölflasche spanisch beschriftet war. Oder wenn jemand auf der Strasse spanisch sprach», erklärt sie.

Beendeter Alptraum

2021 beginnt Sandra eine Traumatherapie, in der sie die Gewalt durch ihren Vater, ihren Ehemann und weitere schlimme Erfahrungen aufarbeitet. Und sie bekommt endlich eine IV-Rente zugesprochen, was ihr sehr viel Last von den Schultern nimmt. Sandra fühlt sich nach und nach besser – und damit werden auch die epileptischen Anfälle weniger. Als ihr Sohn in die Schweiz zurückkehrt, nähern sie sich wieder an. Er – der selbst mit der Diagnose ADHS lebt und nach einem Hirnschlag an neuropathischen Schmerzen leidet – empfiehlt ihr die Therapie mit Cannabis. Sandras Neurologin und Epileptologin ist einverstanden und schreibt ihr ein Rezept: «Derzeit nehme ich vier Tropfen eines THC-CBD-Öls am Morgen ein. Und vor dem Einschlafen rauche ich einen Joint. So bin ich entspannt und kann im Gegensatz zu früher durchschlafen. Die Anti-Epileptika bewirken bei mir einen leichten Schlaf. Mit der Folge, dass ich oft unausgeschlafen und angestrengt war. Ein Teufelskreis, der viele Anfälle nach sich zog. Seitdem ich vor dem Schlafen Cannabis rauche, bin ich anfallsfrei.» Gleichzeitig kann Sandra die Dosierung ihres Epilepsie-Medikaments auf derzeit 300 mg pro Tag senken. Ihr Ziel ist es, langfristig ganz ohne Anti-Epileptika auskommen zu können.

Auch den Kontakt zur Tochter, die noch in Spanien lebt, hat Sandra wieder aufgenommen. «Ich freue mich sehr, sie ist schwanger. Das hat uns wieder nähergebracht.» Es scheint beständig aufwärtszugehen für Sandra. Sogar eine Kostengutsprache für die Cannabis-Medikamente erhält sie von ihrer Krankenkasse. «Ich kann nur jedem Menschen mit Epilepsie empfehlen, abzuklären, um eine Cannabis-Therapie ihm oder ihr guttut. Hätte ich früher damit angefangen, hätte mir das viele epileptische Anfälle und viel Leid erspart.»

Wissenswertes über Epilepsie

Definition

Epilepsie ist eine chronische neurologische Er krankung, die durch wiederholte unkontrollierte elektrische Entladungen im Gehirn gekennzeichnet ist. Diese Entladungen führen zu Anfällen, die in ihrer Form und Intensität stark variieren können. Epilepsie betrifft Menschen aller Altersgruppen und ist eine der häufigsten neurologischen Erkrankungen weltweit.

Ursachen und Risikofaktoren

Die Ursachen von Epilepsie sind vielfältig und nicht in allen Fällen vollständig bekannt. Sie können genetisch bedingt sein oder durch äußere Faktoren verursacht werden. Zu den möglichen Ursachen gehören: 

  • Genetische Faktoren: Vererbte Mutationen oder genetische Veränderungen können eine Rolle spielen.
  • Hirnverletzungen: Traumatische Verletzungen des Gehirns durch Unfälle oder Stürze.
  • Schlaganfälle: Besonders bei älteren Menschen eine häufige Ursache.
  • Infektionen: Erkrankungen wie Meningitis, Enzephalitis oder Zystizerkose.
  • Hirnfehlbildungen: Angeborene Fehlbildungen des Gehirns.
  • Tumoren: Wachsende Geschwülste im Gehirn können epileptische Anfälle auslösen.
  • In etwa 30 % der Fälle bleibt die genaue Ursache unbekannt (idiopathische Epilepsie).
Symptome
  • Epileptische Anfälle können sich auf unterschiedliche Weise äußern und werden in zwei Hauptkategorien unterteilt:
  • Fokale Anfälle: Sie beginnen in einer bestimmten Region des Gehirns. Symptome können Muskelzuckungen, Empfindungsstörungen oder Verhaltensveränderungen sein.
  • Generalisierte Anfälle: Sie betreffen das gesamte Gehirn. Häufige Formen sind:
  • Absencen: Kurze Bewusstseinsverluste ohne Sturz.
  • Tonisch-klonische Anfälle: Stürze, Verkrampfungen und rhythmische Muskelzuckungen.
  • Myoklonische Anfälle: Plötzliche, kurze Muskelzuckungen.
  • Zusätzlich können Begleitsymptome wie Müdigkeit, Verwirrtheit und emotionale Veränderungen auftreten.
Diagnose

Die Diagnose erfolgt durch:

  • Anamnese: Detaillierte Befragung zur Art und Häufigkeit der Anfälle.
  • EEG (Elektroenzephalogramm): Aufzeichnung der elektrischen Aktivität im Gehirn zur Erkennung abnormaler Muster.
  • Bildgebung: MRT und CT helfen, strukturelle Ursachen wie Tumore oder Hirnschäden zu erkennen.
Behandlung
  • Epilepsie ist in vielen Fällen behandelbar. Die Therapie zielt darauf ab, die Anfallshäufigkeit zu reduzieren oder Anfallsfreiheit zu erreichen.
  • Medikamentöse Therapie: Antiepileptika (z.B. Valproat, Lamotrigin, Levetiracetam) sind die Hauptstütze der Behandlung.
  • Operation: In bestimmten Fällen kann eine chirurgische Entfernung des Anfallsursprungs helfen.
  • Vagusnervstimulation (VNS): Implantation eines Geräts zur Stimulation des Vagusnervs zur Verringerung der Anfallshäufigkeit.
  • Ketogene Diät: Eine spezielle, fettreiche Ernährung kann bei bestimmten Epilepsieformen wirksam sein.
  • Psychologische und soziale Unterstützung: Wichtig zur Verbesserung der Lebensqualität.
Leben mit Epilepsie

Epilepsie kann den Alltag der Betroffenen erheblich beeinflussen. Angst vor Anfällen und Einschränkungen in Beruf und Freizeit sind häufige Herausforderungen.

Wichtige Maßnahmen zur Lebensbewältigung:
  • Regelmäßige Einnahme der Medikamente.
  • Vermeidung von Anfallsauslösern (z.B. Schlafmangel, Stress, Alkohol).
  • Teilnahme an Selbsthilfegruppen und Austausch mit anderen Betroffenen.
  • Unterstützung durch psychosoziale Beratungsstellen.

Dank moderner Behandlungsansätze können viele Menschen mit Epilepsie ein weitgehend normales und erfülltes Leben führen. Die Forschung konzentriert sich weiterhin auf die Entwicklung besserer Medikamente und innovativer Therapieansätze.