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Unser 10-jähriges Jubiläum

MEDCAN blickt in einer 10-teiligen Serie zurück. Erfahren Sie mehr über unsere Geschichte, unsere Vereinsarbeit und unsere Vision für die Zukunft

1. Teil: Steter Tropfen höhlt den Stein

Über 100’000 schätzte das Bundesamt für Gesundheit vor einigen Jahren die Anzahl schwerkranker Personen, die sich mit Cannabis illegal selbst medikamentieren. (Ähnlich viele Senior:innen behelfen sich mittlerweile zudem mit rezeptfreien CBD-Tropfen für besseren Schlaf, Appetit und gegen allerlei Altersbeschwerden).

MEDCAN wurde 2014 als gemeinnütziger Verein von Betroffenen gegründet mit dem Ziel, dieser anonymen Masse ein Gesicht zu geben und ihre Situation zu verbessern. Das Umfeld war rau. Die Betroffenen bewegten sich in der Illegalität und mussten sich dem Schwarzmarkt aussetzen. Zwar konnte beim BAG eine Sonderbewilligung für die Anwendung von einigen wenigen zugelassenen Arzneien beantragt werden, Ärzte scheuten aber den damit verbundenen immensen Aufwand.

MEDCAN begann in Zürich, Bern und Basel monatliche Patiententreffen zu veranstalten, wo sich Betroffene in einem vertraulichen Rahmen austauschen und vernetzen konnten. Es war gar nicht einfach, Porträts und Patientengeschichten zu gewinnen; die Stimmung war von Angst geprägt.

Die erste Forderung lautete, dass alle Betroffenen ungehinderten Zugang zu medizinischem Cannabis in geprüfter Qualität zu tragbaren Preisen erhalten und dieses uneingeschränkt und straf- und stressfrei zu sich nehmen können.

Heute, gut anderthalb Jahre nach Änderung des Betäubungsmittelgesetzes (per 01.08.2022) und einige Jahre nach dem ersten CBD-Boom gestaltet sich das Umfeld einiges freundlicher. Die Entstigmatisierung von Cannabis hat in breiteren Kreisen stattgefunden. Patient:innen erhalten durch ärztliche Verschreibung Zugang zu medizinischem Cannabis in geprüfter Qualität zu einigermaßen tragbaren Preisen und können dies straffrei zu sich nehmen.

MEDCAN schätzt allerdings, dass schweizweit bislang kaum 1000 Personen in den Genuss eines Rezepts kamen, von diesen die wenigsten eine Kostenübernahme durch die Versicherung gewährt erhielten. Viele können sich die Medizin aus der Apotheke schlichtweg nicht leisten.

Bis auch alle anderen der über 99’000 Betroffenen auf den Schwarzmarkt oder den illegalen Eigenanbau verzichten können und nicht mehr einfach als Kiffer herabgetan werden, braucht es noch viel Aufklärungsarbeit in alle Richtungen. MEDCAN, als Vertreter der Patient:innen, stellt sich weiterhin dieser Herausforderung. 

MEDCAN blickt mit Stolz auf die geleistete Arbeit zurück, ist mittlerweile solide aufgestellt und national wie auch international anerkannt und gut vernetzt. Nach wie vor sind die Ressourcen jedoch knapp, denn die Arbeit wird freiwillig von wenigen Betroffenen gemeistert.

Zum zehnjährigen Jubiläum verlost MEDCAN 10 x 10 Mitgliedschaften, veranstaltet in losen Abständen Webinare zu relevanten Themen und plant einen Jubiläumsanlass. Die Geschichte wird in weiteren Folgen in den nächsten Newslettern und der neu viersprachig überarbeiteten Website www.medcan.ch aufgearbeitet. 

Für die Zukunft wünscht sich MEDCAN, dass ein rascher Gesinnungswandel und breiteres Wissen in der Öffentlichkeit dazu führen, dass sämtliche Betroffenen erleichtert Zugang zu ärztlichen Verschreibungen erhalten und diese von den Versicherungen auch vergütet bekommen. Zudem mehr Rechtssicherheit im Alltag, wie etwa im Strassenverkehr und im Sozialversicherungsrecht.


Fortunat

Fortunat Heuss ist Gründungsmitglied und spielte zusammen mit Felix und Bruno, der 2015 verstarb, eine entscheidende Rolle bei der Gründung des Vereins. In dieser zehnteiligen Serie blickt er auf die Geschichte des Vereins zurück.


Weitere Themen

  1. Die wilden Jahre 
  2. Die stillen Jahre 
  3. Das Gründungsjahr
  4. Anfängliche Schwierigkeiten
  5. Neue Konstellation, neue Errungenschaften
  6. CBD-Boom
  7. Gesetzesänderung
  8. Schleppende Umsetzung
  9. Stand heute – Blick in die Zukunft

2. Teil: Die wilden Jahre (Vorgeschichte 1/2)

Die 70er und 80er Jahre

Ohne Bruno selig gäbe es kein MEDCAN. Und ohne hunderttausende illegale Kiffer wäre bis heute von medizinischem Cannabis nicht die Rede.

Bruno war Zeit seines Lebens ein Cannabis-Rebell. Früh verliess er das Elternhaus und mischelte sich durchs Leben. Schon in den Siebzigern sass er an der Riviera beim Bellevue oder stand am Brüggli beim Platzspitz und verkaufte Hasch. Andere Drogen oder Alkohol waren für ihn kein Thema.

Später reiste er selber nach Andalusien und Marokko, um die Ware aufzutreiben und unter grossem Risiko nach Zürich zu bringen. Einmal verbrachte er einige Zeit in Spanien im Knast. Das Geräusch von Klebeband wurde ihm beim Abpacken zum Verhängnis.

Die Grenzen überquerte er jeweils mit zwei Fahrzeugen. Voran ein hochverdächtiger Hippie-Döschwo, dem die Grenzwächter sofort höchste Aufmerksamkeit widmeten, gleich dahinter eine seriöse Jaguar Limousine mit brisanter Ladung, die ohne Aufsehen durchgewinkt wurde.

«Gras» mit hohem THC-Gehalt kannte man damals nicht. Die Cannabispflanze als Faserlieferant war nicht mehr gefragt. Der medizinische Wert der Cannabispflanze war in der Öffentlichkeit seit Aspirin und amerikanischen Hetzkampagnen in Vergessenheit geraten. «Vogelhanf» (aus Vogelfuttersamen) zu rauchen war etwas für alte Bauern und junge Anfänger (entspricht in etwa dem heutigen CBD).

Hasch wurde von Hippies seit den Sechzigerjahren von Indien, Nepal, Afghanistan Libanon und Marokko hergebracht und verbreitet. 

Ein Forschungsprojekt der ETH Zürich zu Kreuzungen von Cannabis Sativa mit Indica verhalf einigen Insidern zu potenteren Sorten für den illegalen Eigenanbau. Zudem wurden solche immer mehr durch kalifornische und niederländische Firmen entwickelt und vermarktet.

Die 90er Jahre

In den Neunzigern entstand in der Schweiz ein wahrer Boom. Cannabis eignet sich hervorragend für den Fruchtwechsel bei den Biobauern. Neu entwickelte Sorten wurden eingekreuzt, ganze Felder wurden damit bestellt. Man befand sich in einer Grauzone. Der Anbau war Bauern damals nicht verboten, nur der Handel zum Zweck des Rauchens sowie der Konsum.

Man konnte sich direkt ab Feld mit frischen Pflanzen eindecken, nach Unterschrift auf einem Zettel, dass man es nicht rauchen wird. Bei der Wegfahrt wurde man kurz danach meist von der Polizei angehalten und überprüft. Wenn man nichts Dummes machte oder sagte und sie keine abgerissenen Papierli-Kartons oder Joint-Stummel als Missbrauchsindiz fanden, konnte man unbehelligt weiterfahren.

In den Städten schossen «Duftseckli-Shops» wie Pilze aus dem Boden. Die getrockneten Blüten wurden in Stoffsäckchen eingenäht um sie in den Kleiderschrank zu hängen oder unters Kopfkissen zu legen. 

Der clevere Bruno war an vorderster Front mit dabei. Kurzerhand mietete er hinter dem Hauptbahnhof einen Coiffeurladen und verkaufte die Säckchen in rauen Mengen. Mit dem Selbstverständnis, etwas Legales zu tun, tippte er auch Säckchen für Säckchen in die Kasse und versteuerte seine Einnahmen. 

Das Illegale konnte er jedoch nie lassen: Nebenbei betrieb er mehrere Räume, wo er Indoor-Pflanzen mit hohem THC-Gehalt kultivierte. 

Typisch Bruno öffnete er auch selber einen legalen «Growshop» – James Blunt – um günstiger an die benötigten Utensilien zu kommen und sich weiter zu vernetzen.

Das Business grassierte. Viele der Duftsäckli-Shops entstanden auch direkt an den Landesgrenzen. Dort kamen sie in Scharen aus dem nahen Ausland und deckten sich ein. Der Druck aus der EU auf die Schweiz nahm zu, diese Grauzone einzudämmen. Auch innenpolitisch regte sich einiges.

Zwar wurde 1997 die Volksinitiative «Jugend ohne Drogen» mit 29,3 % Ja-Stimmen deutlich abgelehnt. Die Volksinitiative «für eine vernünftige Drogenpolitik» dann im November 1998 mit 26,0 % Ja-Stimmen ebenso deutlich.

Im Vorfeld dieser Abstimmung, die anfänglich grossen Zuspruch fand, wurde heftig dagegen politisiert und folglich restriktiv gegen den Wildwuchs vorgegangen.

Fertig lustig

Im Juni 1998 wurde gegen Bruno Anklage erhoben, im Oktober darauf wurde er verurteilt. Eine 14-monatige bedingte Haftstrafe, 20’000 Franken Busse  und 100’000 Franken Gewinnabschöpfung waren die Folge. 

Niemand, so die Strafverfolger, bezahle 50 Franken für ein Säckchen, nur um es Lavendel gleich zwischen die Socken zu legen oder ein bisschen daran zu schnuppern. Sie seien lediglich ein Vehikel, das Betäubungsmittelgesetz zu umgehen. Die Aufkleber – nicht zum Rauchen – ziehen ihn nicht aus der Verantwortung. Gleichzeitig fand im Kanton Bern ein ähnlicher Prozess statt.

Das hatte schweizweit Signalwirkung. Repression war wieder angesagt. Felder und Shops verschwanden innert Kürze von der Landschaft.