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Angélique

Jahrgang: 1996
Diagnose: Ehlers-Danlos-Sydrom
«Cannabis gibt mir die Energie, um Dinge zu tun, für die ich sonst keine Kraft habe.»
«Abends im Bett wünschte ich mir, am nächsten Morgen einfach nicht mehr aufzuwachen.»
Angélique
Patientengeschichten

Angélique ist Mitte 20. Schon mehr als die Hälfte ihres Lebens begleitet sie der Schmerz. Begonnen hat alles mit elf Jahren: Angélique plagen seitdem ständig – mal schwächere, mal stärkere – Gelenkschmerzen. Oft verschieben sich ihre Brustwirbel leicht. Dann verspürt Angélique Schmerzen, als hätte man ihr «ein Messer im Rücken» gerammt. Die Schmerzen strahlen auf den ganzen Oberkörper aus. Zeitweise blockiert ihre Hüfte beim Laufen, so dass selbst einfaches Fortbewegen zur Tortur wird. Auch renken sich bei ihr oft auf schmerzhafte Weise Gelenke aus – bei einfachen Bewegungen wie z.B. Hinsetzen. Für das Mädchen beginnt ein Ärzte-Marathon – vom Orthopäden bis zum Rheumaspezialisten – doch niemand kann ihr wirklich helfen. Für Angélique haben die andauernden Schmerzen zur Folge, dass sie oft müde und erschöpft ist. Während ihre Kollegen und Kolleginnen unterwegs sind, Sport treiben oder sich treffen, schafft sie es manchmal noch nicht einmal, ihre Hausaufgaben zu erledigen.

Kein Verständnis der Schule

Weil der Schmerz ihr ständiger Begleiter ist, entwickelt Angélique ein chronisches Schmerzsyndrom. Sie muss einen «Cocktail» aus hochdosierten Schmerzmedikamenten sowie muskelentspannenden Medikamenten nehmen, die jedoch nur wenig helfen. Manchmal kann sie wochenweise den Unterricht nicht besuchen. Sowohl die Schulleitung als auch einige Lehrkräfte und Mitschüler zeigen kein Mitgefühl für Angéliques Situation: «Im Nachhinein habe ich erfahren, dass ein Lehrer mehrmals vor der Klasse gefragt hat, ob ich ‚meinen Schwänztag‘ hätte. Das hat mich sehr verletzt. Und auch die Schulleitung hatte kein Verständnis für meine krankheitsbedingten Abwesenheiten», berichtet Angélique über das Unrecht, das ihr widerfahren ist. Noch schlimmer aber ist, dass selbst manche ihrer Mitschülerinnen und Mitschüler, ja sogar Menschen in ihrem direkten Umfeld denken, sie simuliere nur. «Weil man jahrelang keine konkrete Krankheit gefunden hat, wurde mir immer wieder gesagt: Das ist doch alles nur in deinem Kopf. Das ging so weit, dass ich mir selbst nicht mehr geglaubt habe. Manchmal lag ich abends im Bett und habe mir gewünscht, am nächsten Tag einfach nicht mehr aufzuwachen.»

Durch Zufall zur Cannabis-Selbsttherapie

Mit 16 kommt Angélique über ihren Freundeskreis das erste Mal mit Cannabis in Berührung. Aus «jugendlicher Neugierde» wie sie sagt. Die Wirkung verblüfft sie. Während ihre Freundinnen und Freude nach einem Joint ruhiger werden, fühlt sie sich zum ersten Mal seit Langem wieder aktiv und energiegeladen. Denn Cannabis dämpft ihre Schmerzen und entspannt ihre Muskeln: «Endlich hatte ich zwischendurch mal wieder die Kraft für schöne Dinge – z.B. Freunde treffen oder das Singen in meiner Band.»

Angélique beginnt, sich selbst mit CBD und THC zu therapieren. Wenn ihre Medikamente nicht wirken, raucht sie einen Joint. Denn die Wirkung tritt bei einem akuten Schmerzschub so schneller ein als mit anderen Einnahmeformen. Nicht jeder findet ihre Selbsttherapie gut: «Meine Mutter stammt aus Bayern und dort ist die Gesetzgebung bezüglich Cannabis sehr streng. Sie hatte Vorbehalte wegen meines Cannabis-Konsums und wir deswegen ständig Streit. Und auch meine damalige behandelnde Rheumatologin war eine erklärte Cannabis-Gegnerin. Sie behauptete allen Ernstes, mein Schmerzempfinden käme vom Cannabis-Konsum. Dabei war Cannabis das Einzige, was mir wirklich half. Soviel Unwissenheit und Vorurteile von medizinischer Seite sind doch haarsträubend. Sie verschreiben dir organschädigende Medikamente mit zahllosen Nebenwirkungen und erzählen dir dann, Cannabis mache abhängig», erzählt Angélique noch heute ungläubig. Von Bundesbern wünscht sie sich deshalb die schnelle Legalisierung von Cannabis für alle – insbesondere aber für Menschen mit schweren Erkrankungen. Und eine bessere Aufklärung über die positiven Effekte von Cannabis bei vielen Erkrankungen für die Ärztinnen und Ärzte sowie für die Bevölkerung durch transparente, unabhängige Studien. Eine Übernahme der Kosten für die (Selbst-)Therapie mit zugelassenen Cannabis-Medikamenten oder Cannabis durch die Krankenkassen ist ebenfalls auf Angéliques Forderungsliste.

Endlich eine Diagnose

Im Jahr 2014 – Angélique ist 18 Jahre alt – erhält ihr Leiden endlich einen Namen: Ehlers-Danlos-Syndrom (siehe Box). Angélique hat den häufigsten Subtyp: das hypermobile EDS, das fast immer mit grossen Schmerzen für die Betroffenen verbunden ist.

Doch obwohl jetzt Angélique weiss, woran sie erkrankt ist, hilft ihr das nicht weiter – im Gegenteil. Das Wissen um ihre Krankheit, die ständigen Schmerzen und das fehlende Verständnis in der Schule treiben die junge Frau in ein Burn-out. «Ich war körperlich und seelisch total erschöpft. Ich liess mich mitten im elften Schuljahr von der Kantonsschule freistellen. Kurze Zeit später begann ich eine stationäre Reha in Rheinfelden. Nach und nach ging es mir dank psychologischer Betreuung, Aufbausport und dank des neuen, wertschätzenden Umfelds wieder besser.» Ganze eineinhalb Jahre braucht Angélique, um sich zu erholen. Das Burn-out und die anschliessende Therapie haben ihr geholfen, ihre Krankheit besser zu akzeptieren und gewisse schlimme Erfahrungen hinter sich zu lassen.

Im Sommer 2016 fühlt sie sich stark genug, um wieder zur Schule zu gehen. Sie entscheidet sich, die Schule zu wechseln und meldet sich an der Fachmittelschule Wettingen an. Von Anfang an informiert sie die Schulleitung über ihre Erkrankung – und erfährt viel Verständnis und Unterstützung. «Es tat so gut. Ich konnte neu anfangen ohne falsche Verdächtigungen und Anschuldigungen. Die Lehrkräfte waren nett und meine Klasse auch. Drei Jahre später habe ich an dieser Schule mit 5.8 meine Fachmatura bestanden.»

Positiv in Richtung Zukunft

Angélique ist dank der langen Reha und auch dank ihrer Cannabis-Selbsttherapie heute in der Lage, positiv nach vorne zu schauen. «Ich habe gelernt, ohne schlechtes Gewissen zu sagen: Heute brauche ich einen Tag Ruhe.» Zwar begleiten sie die Schmerzen und damit verbunden auch depressive Schübe noch immer. Aber trotzdem möchte Angélique bald eine Grafiker-Ausbildung im Fernstudium beginnen. Derzeit nimmt sie mit ihrer Band The Shains ein Album auf, das im Herbst 2021 erscheinen soll. «Die Musik ist mein Ventil. Ich kann in den Songs mit einem gewissen Abstand über meine Gefühle und Erfahrungen sprechen – z. B. auch über die schlimmen Gedanken von einst, als ich nicht mehr weiterleben wollte. Doch diese Zeiten sind zum Glück vorbei.»

 

Wissenswertes zum Ehlers-Danlos-Syndrom

Das Ehlers-Danlos-Syndrom (EDS) gehört zu den seltenen Krankheiten. Es sind bisher 19 Genmutationen erforscht, die EDS auslösen können. Das Syndrom ist in Untertypen gegliedert, die jedoch alle eine Überbeweglichkeit des Bindegewebes gemeinsam haben: Je nach Untertyp sind Haut, Gelenke, aber auch Gefässe, Muskeln, Bänder, Sehnen und innere Organe betroffen.

Was ist EDS?

Angélique hat den häufigsten Untertyp von EDS, nämlich hEDS – das hypermobile EDS. Eine genetische Ursache wurde bisher nicht gefunden. Wie Angélique haben Betroffene hypermobile kleine und grosse Gelenke. In der Folge leiden sie an Gelenkinstabilitäten sowie Subluxationen (unvollständige Verrenkungen) und Luxationen (Verrenkungen) der Gelenke. Dies verursacht bei rund 90% der Patienten starke, oft chronische Schmerzen. Bei Betroffenen mit dem hEDS-Untertyp ist die gemessene Schmerzintensität am höchsten im Vergleich zu anderen EDS-Untertypen.